Über die Wunderfrage und Aufstellungen in der systemischen Arbeit.

Über die Wunderfrage und Aufstellungen in der systemischen Arbeit.

Kürzlich fragte mich jemand in einer Veranstaltung, wie das denn mit den Aufstellungen in der Systemischen Therapie funktionieren würde. Ihre Augen glänzten, als sie mich das fragte. Offenbar hatte sie davon schon viel gehört. Sie sagte, dass sie das auch lernen möchte. Ich war einen Moment überrascht von dieser Frage. Eine Aufstellung ist eine Methode in der systemischen Arbeit. Mit Aufstellungen können komplexe Beziehungen zwischen Personen innerhalb von Systemen z.B. Teams, Familien dargestellt werden. Durch die Hinzunahme von neuen Perspektiven, werden Zusammenhänge sichtbar. In der Aufstellung selbst sind auch erste Impulse für die Lösung des Problems enthalten. 

Die Aufstellungen in der systemischen Arbeit sind etwas, wovon sich viele Menschen in den Bann gezogen fühlen. Diese Aufstellungen wirken manchmal ein bisschen magisch. Ich bin jedes Mal ein bisschen irritiert, wenn jemand nach den Aufstellungen fragt. Ausgerechnet nach den Aufstellungen! Die Aufstellungen sind eindrucksvoll und ermöglichen oft neue Erfahrungen und Erkenntnisse, wenn sie für die richtige Fragestellung verwendet werden. In meiner Weiterbildung zur systemischen Beraterin und Therapeutin haben wir sie sehr oft geübt. Doch die Aufstellungen sind nur ein klitzekleiner Teil der systemischen Arbeit. Es ist eine tolle Methode, die man auch gut für Teams und auch die Arbeit mit inneren Anteilen nutzen kann. Allerdings hat die systemische Therapie noch viel mehr Methoden in ihrem Werkzeugkoffer. Wenn mich jemand nach den Aufstellungen fragt, bin ich manchmal auch etwas traurig, weil es andere Methoden oder Perspektiven noch nicht so sehr in das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit geschafft haben. 

Das gleiche Gefühl entsteht auch in mir, wenn ich nach der Wunderfrage gefragt werde. Die Wunderfrage gehört auch zu den eher bekannten Werkzeugen aus der systemischen Arbeit. Sie kann zum Beispiel so lauten: „Stell dir vor, du wachst auf und dein Problem wäre verschwunden. Was wäre dann anders?“ Die Frage selbst scheint auf den ersten Blick sehr einfach und klar zu sein –  die Wirkung, die diese Frage entfalten kann, ist jedoch oft so facettenreich und tief, dass es ein Frevel wäre, sie als eine einfache Frage abzutun. 

In der Schule habe ich einen Lektürekurs für das Fach Deutsch besucht. Wir haben Literatur gelesen und uns darüber ausgetauscht. Ich mochte diesen Kurs sehr. In diesem Unterricht haben wir auch „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ von Robert Musil gelesen. Robert Musil hat seinem Werk ein Zitat Maeterlinck vorangestellt, dass mich seitdem begleitet:

Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht der Wassertropfen an unseren bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem Meere, dem er entstammt. Wir wähnen eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir nur falsche Steine und Glasscherben mitgebracht; und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert.

Den Effekt der Wunderfrage mit Worten zu erklären, ist müßig. Den Effekt von Aufstellungen zu beschreiben, ist schwer möglich. Jede Erklärung bleibt weit hinter der Erfahrung zurück. Auch die wahre Tiefe und Bedeutung der Systemik lässt sich nicht anhand von zwei Werkzeugen aus dem systemischen Methodenkoffer bemessen.

Die systemische Therapie ist mehr als ein Hammer und eine Säge – sie ist eine gut ausgestattete Werkstatt, die anregt, kreativ zu sein. Sie ist ein Raum, den man gern betritt, weil er mit seinen vielfältigen Werkzeugen zur Arbeit an und mit ganz unterschiedlichen Materialien einlädt. Alle Werkzeuge sind sortiert und griffbereit. Ein paar Multitools sind auch dabei. Hier kann Holz bearbeitet werden. Hier lassen sich Konstruktionen aus Holz und anderen Werkstoffen erstellen. Hier können Gegenstände, die schon lange zuhause rumstehen in ihre Einzelteile zerlegt werden und auf ihre aktuelle Nützlichkeit geprüft werden. Hier können Dinge, die sich als nicht mehr nützlich erweisen, auch entsorgt werden. Dafür steht ein großer Mülleimer bereit. Hier werden Möbelstücke auseinandergenommen und neu zusammengesetzt. Manchmal werden die Gegenstände auch einfach nur neu geschliffen – die alten Späne entsorgt und die frisch geschliffenen Gegenstände geölt. Die Materialien laden dazu ein, gewohnte Muster zu verlassen und neue Wege zu gehen. 

Ich bin sehr gern in dieser Werkstatt. Bevor ein anderer Mensch meine Werkstatt betritt, lege ich mir sorgfältig alle Werkzeuge und Materialien zurecht, die ich ganz sicher brauchen werde. Außerdem prüfe ich, ob auch die Dinge an ihrem Platz sind, die ich nicht so oft nutze – für den Fall, dass ich sie brauche. Da jeder Kontakt eine individuelle Begegnung mit einem Menschen und ein einzigartiger Prozess ist, lässt sich nicht jeder Schritt vorhersehen – jedoch etwas vorbereiten. Und dann beginnt die gemeinsame Arbeit. 

Am 22.11.2018 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die Systemische Therapie nach einem jahrelangen Antragsverfahren sozialrechtlich anerkannt. Das bedeutet, dass die Methode nun bald in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen wird. Die Systemik steht damit dann an dem Platz, den sie verdient: Sie steht gleichberechtigt neben der Psychoanalyse, Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie und der Verhaltenstherapie. Diese Anerkennung ist für mich so bedeutsam, weil damit auch die wertschätzende Haltung dem Menschen und der Seele gegenüber anerkannt wurde. Das ist an sich schon ein Grund zum Feiern. Mit der Anerkennung dieser Haltung wird nun auch die Aufnahme in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen möglich. Damit damit erhält die Systemik nun endlich auch die gleiche Aufmerksamkeit und Wertschätzung wie andere therapeutische Verfahren. 

ICE Hamburg-Berlin, 24.11.2018