Es ist noch gar nicht so lange her, da lebte ich ein sehr dynamisches Leben. Jeden Tag verbrachte ich an einem neuen Ort oder in einer anderen Stadt. Ich liebte es mit dem ICE durch das Land zu reisen und in den Trainings Menschen zu begegnen.
Die Fahrten zu diesen Veranstaltungen waren mit einigen Vorbereitungen verbunden, denn es musste jede Menge Material zusammengestellt und die Reise organisiert werden. Verschiedene Zugverbindungen mussten ausgewählt und passende Unterkünfte gefunden werden, die in der Nähe des Veranstaltungsortes lagen. Auf diesen Reisen begleitete mich immer ein ganz bestimmter Soundtrack. Genau genommen gab es eigentlich nur zwei Alben und eine Handvoll Stücke, die sich je nach Stimmung abwechselten. Auf manchen Reisen wiederholte ich diese Songs immer wieder, hörte sie in einer nicht enden wollenden Schleife, so wie die Zugfahrt in Richtung Süden oder Westen nie enden wollte. Dieses Gefühl im Großraumwagen zu sitzen, die Kopfhörer auf den Ohren und tief versunken in meine innere Welt – hat mich immer zu kreativen Höchstleistungen gebracht. In dieser Stimmung entwickelte ich Konzepte, fasste meine Gedanken in Worte und las anregende Bücher. Die Reisezeit war meine Zeit.
Manche Fahrten eröffnete ich mit einem Song und stoppte die Endlosschleife erst Stunden später als ich im Hotel ankam. Diese Musik war der Soundtrack für die Veränderung und die Dynamik in meinem Leben. Endlose Kilometer auf Schienen habe ich so zurückgelegt. Oft genug hatte ich dafür meinen Lieblingsplatz lange im Voraus reserviert. Einige Reisen bin ich nur für diese langen Zugfahrten angetreten. Auf diesem Weg habe ich auch die Schönheit der Berge im Sommer entdeckt und meine ersten Bergwanderungen unternommen. Auf den Fahrten rauschte die im Dunkel der Dämmerung verschwindende Landschaft an mir vorbei. Wassertropfen perlten an den Fensterscheiben ab. Lebendigkeit und Vergänglichkeit verschmolzen in einem Moment.
Das ist nun vorbei. Nun sieht mein Leben ganz anders aus. Statt von einem Veranstaltungsort zum nächsten zu sprinten, bin ich zuhause. Seit mehr als einem Jahr habe ich bis auf wenige Ausnahmen alle Veranstaltungen von meinem Zuhause aus gestaltet. Das funktioniert gut, auch wenn meine Reisezeit wegfällt. Dadurch fallen auch die vielen kleinen Inspirationen auf dem Weg weg, die meine Kreativität mit zuverlässiger Regelmäßigkeit gefüttert haben. Wie oft bin ich mit vielen neuen Ideen im Gepäck nach Hause gekommen.
Den Soundtrack braucht es nun nicht mehr. Doch wenn ich diese Musik heute höre, bringt sie mich sofort in diese Stimmung zurück. In die Zeiten von verspannten Muskeln, weil der Trolley mit den Seminarunterlagen doch wieder zu schwer geworden war. Die Ungewissheit, ob das gebuchte Hotelzimmer das Versprechen der Beschreibung einlöst. Der Wunsch nach einer heißen Dusche nach einem langen Tag. Oft genug nur ein schneller Snack zwischendurch.
Jetzt verbringe ich jeden Tag zuhause zusammen mit meiner Familie. Mein Mann arbeitet auch von zuhause. Wenn es unsere Termine erlauben, verbringen wir die Mahlzeiten zusammen. Die gemeinsame Koch- und Essenszeit ist ein hilfreiches Ritual geworden. Auch unsere gemeinsamen Abendspaziergänge sind eine gute Stütze, auch wenn wir seit einem Jahr die immer gleichen Strecken gehen. Mein Interesse an der mich umgebenden Natur ist in den letzten zwölf Monaten noch größer geworden. Die Blüten der Kirschbäume bei uns sind eine Wohltat für die bildschirmmüden Augen. Unser kleiner Garten vor der Tür erfreut mich jeden Tag. Am Morgen stehe ich minutenlang am Fenster und schaue mit müden Augen und dem ersten Kaffee in der Hand nach meinen Pflanzen. Ihre Vielfalt ist einfach zauberhaft. Manche von ihnen begleiten mich schon eine Weile. Sie werfen ihr Laub ab, wenn es an der Zeit dafür ist und sammeln Kräfte für einen Neustart im Frühjahr. Andere sind den ganzen Winter über grün geblieben. Ihre Kraft reicht für ein ganzes Jahr. Dazwischen stehen noch ein paar Spinatpflanzen, die ich im vergangenen Oktober ausgepflanzt habe und die sich nun mit ihrem großen Blättern aus sattem Grün in Richtung Himmel strecken. Von ihnen lerne ich, was wirklich wichtig ist. Die ersten Ringelblumen des Jahres zeigen ihre zart-grünen Keimblätter. Gerade strecken die ersten Tulpen ihre Köpfe zaghaft der Sonne entgegen. Später im Sommer werden wieder die Dahlien blühen.
Berlin, 15.04.2021