Was Achtsamkeit in Zeiten des Coronavirus bedeutet

Was Achtsamkeit in Zeiten des Coronavirus bedeutet

Ich erinnere mich noch an eine Zeit, da wurde das Thema Stressmanagement, Achtsamkeit und Resilienz noch von vielen Menschen belächelt. Ein Orchideenthema. Ein Thema, das manchmal von einer – mir bis heute unerklärlichen – Aura des Esoterischen umgeben war. 

Im Jahr 2020 sieht es anders aus. In diesen Tagen breitet sich der Virus SARS-CoV-2 aus. Die WHO hat diesen Virus am Dienstag zur Pandemie erklärt. 
Die Menschen sollen zuhause bleiben und den sozialen Kontakt meiden. Warum das nötig ist? Der Virus wird von Mensch zu Mensch meist auf dem Weg der Tröpfcheninfektion übertragen. Wer in diesen Tagen hustet oder niest oder andere Erkältungssymptome öffentlich zeigt, muss mit Stigmatisierung rechnen. 

Husten, Niesen, Schnupfen, Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen sind nicht nur Symptome einer Erkältung, sondern auch Symptome einer COVID-19 Erkrankung, die zu einer Lungenentzündung führen kann. Bei einem schweren Verlauf ist man nicht mehr in der Lage selbst zu atmen und ist auf eine künstliche Beatmung in einem Krankenhaus angewiesen.  
An einer Lungenentzündung zu sterben, ist kein Phänomen aus Zeiten von Tolstoi und Dostojewski. Auch heute steht die Erkrankung auf Platz 5 der bundesweiten Todesursachen. 3-5% aller Erkrankungen verlaufen tödlich.

Schon vor einigen Jahren habe ich mich entschieden, keine Nachrichten mehr zu konsumieren. Die tägliche Konfrontation mit Dingen, die ich nicht ändern kann, weil sie schlicht meinen Wirkungskreis überschreiten, hat mich müde gemacht. Es waren bereits die Stoiker des antiken Griechenlands, die dazu aufforderten genau das zu tun, wolle man ein gutes Leben haben. 
Folgen wir diesem Rat, können wir Selbstwirksamkeit entwickeln. Unter Selbstwirksamkeit versteht man die tief verankerte Überzeugung, aus sich selbst heraus wirksam zu sein. Selbstwirksamkeit kann man üben und trainieren wie einen Muskel. Doch wie bei einem Muskel kann die Entwicklung in beide Richtungen gehen: Mit bestimmten Übungen kann ich einen Muskel aufbauen und trainieren. Dann wird er größer. Wenn ich nicht übe, den Muskel nicht nutze oder mich in einer Fehlhaltung befinde, verkürzt ein Muskel und büßt über kurz oder lang seine Leistungsfähigkeit ein. 

Zu meiner Arbeit gehört der tägliche Kontakt mit Menschen. Ich treffe diese Menschen in kleinen oder größeren Gruppen, mal gibt es engeren Kontakt, mal ist der Kontakt nur sehr kurz. Diese Menschen wollen wachsen und sich entwickeln. Manche von ihnen haben akute Beschwerden und wollen Verantwortung für sich übernehmen, damit es ihnen besser geht. Viele von ihnen wollen Selbstwirksamkeit entwickeln.

In den letzten Tagen habe ich mit großer Sorge die aktuellen Nachrichten verfolgt. Das ist für mich sehr ungewöhnlich. Im Moment fühlt es sich so an, als sei es fast meine Pflicht, dies zu tun, denn als Mitglied dieser Gesellschaft trage ich Verantwortung für meine Mitmenschen und für mich selbst. 
Nachrichten zu konsumieren, scheint in diesen Tagen eine Bürgerpflicht zu sein. Wir alle lesen in diesen Tagen immer wieder Nachrichten über COVID-19, die Atemwegserkrankung infolge des SARS-CoV-2 Virus, der sich mit unvorstellbarer Geschwindigkeit ausbreitet. Ich meine es wörtlich: Wir Menschen können uns eine exponentielle Verbreitung des Virus nicht vorstellen. Wir haben keinen Sinn dafür. Die aktuellen Nachrichten sind voll von exponentiellen Zahlen, steilen Kurven und Hochrechnungen der Ausbreitung des Virus. Noch einmal zur Erinnerung: Bei SARS-CoV-2 handelt es sich um ein Virus, das neu für die Menschheit ist. Wir wissen noch nicht viel darüber, über welchen Weg im Körper sich das Virus ausbreitet – und wie es sich eindämmen lässt. Es ist ein neuartiges Virus, das die ganze Welt in Schach hält. Aktuell gibt es keine Medikamente und keine Impfung.

Viren sind schon interessante Zeitgenossen: Sie sind das konzentrierte Leben. Sie wollen sich um jeden Preis vermehren und verbreiten. Die Strategie, die SARS-CoV-2 dafür gewählt hat, scheint außerordentlich effektiv zu sein: Bei sehr vielen Menschen treten nur leichte Symptome auf, die der Mensch bereits von einer Erkältung kennt. Ist das nicht interessant? Und so schleppt sich der pflichtbewusste Arbeitnehmer weiter zur Arbeit, weil er davon ausgeht nur an einer Erkältung erkrankt zu sein. Auf dem Weg ins Büro verbreitet er seine Viren in den öffentlichen Verkehrsmitteln, die er schon lange nutzt, um seinen ökologischen Fußabdruck zu reduzieren. Im Büro nutzt er den Fahrstuhl, weil die Treppen in den siebten Stock mit Erkältungssymptomen zu beschwerlich sind. So wird – vielleicht etwas zögerlich – die Taste in den siebten Stock gedrückt. In den kommunikativen Großraumbüros, die in den letzten Jahren vermehrt eingerichtet wurden, trifft man auf Kolleg*innen. Um 10 Uhr trifft man in schlecht belüfteten Meetingräumen auf weitere Kolleg*innen, trinkt Wasser aus der offenen Karaffe, die noch vom Vortag auf dem Tisch steht. Einige der Kolleg*innen haben auch leichte Erkältungssymptome, trauen sich aber nicht zuhause zu bleiben, weil die Arbeit ja gemacht werden muss. 

Menschen sind schon interessante Zeitgenossen: In diesen Tagen zeigt sich der ganz unterschiedliche Umgang mit einer Bedrohung, die unsichtbar ist und bei vielen Menschen zu keinen schweren Symptomen führt. Viele von uns werden nur leicht betroffen sein. Der eigene Nachteil, der durch Einschränkungen im sozialen Kontakt, abgesagte Konzerte und Veranstaltungen erlebt wird, wird manchmal belächelt, manchmal verflucht. Es ist sehr menschlich, dass wir nichts verpassen wollen. Aktuell kann dieses Bedürfnis lebensgefährlich sein – für uns selbst und/oder für andere.

Immer wieder lese ich Sätze wie diese: „Es ist doch alles nicht so schlimm!“ „Alles übertriebene Panikmache!“ – Ein Blick nach Italien lässt mir eine Gänsehaut über den Rücken laufen. Der Brief, den ein Arzt aus Bergamo vor einigen Tagen auf Facebook veröffentlicht hat, hat mich erreicht, auch wenn ich Facebook schon sehr lange nicht mehr nutze. Das soziale Leben ist in Italien zum Stillstand gekommen. Ich erinnere mich an die Zeit, in der ich in Bologna in der Emilia-Romagna in Norditalien gelebt habe. Ich erinnere mich auch an Mailand und Turin. Das Leben dort muss jetzt ganz anders sein. Den Mercato delle Erbe, auf dem ich beinahe täglich mein Gemüse gekauft habe, kann ich mir ohne Menschen nicht vorstellen. Auch die lebendige Bibliothek Salaborsa auf dem Piazza Maggiore im Zentrum der Stadt kann ich mir ohne Menschen nicht vorstellen. 

Auch ich habe am Anfang zu den Menschen gehört, die das COVID-19 Virus mit der Grippe verglichen haben. Inzwischen mache ich das nicht mehr. 
Häufiges Händewaschen gehört für mich aktuell zur Pflicht, auch wenn ich das aus anderen gesundheitlichen Gründen nicht so machen sollte. Ich mache es dennoch – aus Verantwortung. Die Husten- und Niesetikette ist in diesen Tagen Bürgerpflicht und nicht nur eine angenehme Randerscheinung des sozialen Miteinanders. 

In einem Kurs in den letzten Tagen sprachen wir über die unterschiedlichen Arten des Niesens: Manche Menschen niesen leise, andere laut, manche sehr laut. Manche Menschen können laut und leise niesen – andere haben diese Wahl nicht. In diesen Tagen ist es besser nicht in Gesellschaft zu niesen. Hat man Erkältungssymptome, bleibt man besser zuhause. Macht man das nicht und trägt seine Erkältungssymptome in der Öffentlichkeit zur Schau, wird man nicht mehr für seine Disziplin und sein Durchhaltevermögen bewundert, sondern erhält Blicke, die eine ganz sonderbare Mischung aus Angst, Verachtung und Abscheu ausdrücken. Manchmal sind es auch vorwurfsvolle Blicke. 

Unangenehme und bedrohliche Erfahrungen zu verdrängen, ist eine hilfreiche Eigenschaft des Gehirns. Manchmal ist sie lebensbedrohlich, wenn wir eine ernste Bedrohung oder akute Symptome verleugnen. In diesen Tagen scheinen Verantwortung und Solidarität hilfreichere Eigenschaften zu sein als Verdrängung und Eigennutz. Auch eine etwas größer ausgeprägte Ängstlichkeit als Persönlichkeitseigenschaft kann hier unterstützend sein. Immerhin haben sich Menschen mit einer ausgeprägteren Ängstlichkeit bis heute durchsetzen können. Hätte sich diese Eigenschaft im Laufe der Evolution als unnütz herausgestellt, hätte sie sich nicht weiterentwickelt.

Die Möglichkeiten Verantwortung für sich selbst und die Gesellschaft zu übernehmen, können vielfältig sein. Menschenansammlungen meiden, zuhause bleiben. Das soziale Leben muss zum Erliegen kommen, wenn wir dem Virus die Ausbreitung erschweren wollen. Nur so können wir unsere Solidarität für andere Menschen zum Ausdruck bringen. Darunter fallen fremde Menschen, aber auch unsere eigenen Eltern, Großeltern, Ur-Großeltern. Aber nicht nur die eigene Familie kann betroffen sein: Auch Pflegebedürftige und chronisch oder schwererkrankte Menschen gehören zur Risikogruppe für schwere Krankheitsverläufe.
Nur wenn wir alle uns in Solidarität üben und dies in unserem individuellen Handeln zum Ausdruck bringen, können wir die rasante Ausbreitung des Virus aufhalten. Wenn wir das tun, was in unseren Möglichkeiten liegt, können wir eine Überlastung des Gesundheitssystems helfen zu verhindern oder auch nur etwas Zeit gewinnen.

Wie lange dieser Zustand der sozialen Isolation andauern wird oder muss, kann zum jetzigen Zeitpunkt niemand sagen. Ein Großteil der Menschen (etwa 80%) wird zu den Extrovertierten gerechnet. Für introvertierte Menschen wird die Zeit der selbst auferlegten oder angeordneten Quarantäne sicherlich nicht ganz so schwierig sein, wie für die extrovertierten Menschen unter uns.
Immer mehr Schulen werden geschlossen, die Ferien vorgezogen. Das kulturelle Leben kommt zum Erliegen. Bibliotheken werden geschlossen. Veranstaltungen abgesagt. Es ist eine hochdynamische Situation, die sich jeden Tag mehrfach ändern kann. 

In diesen Tagen wird von uns allen viel abverlangt. Auch ich sage alle Termine ab, die nicht wirklich notwendig sind und versuche sie per Telefon oder online wahrzunehmen.
In meinen Kursen begegnen sich Menschen. Sie machen sich oft mit den öffentlichen Verkehrsmitteln auf den Weg und begegnen dort anderen Menschen. Um die Ausbreitung des Virus einzudämmen und meinen Beitrag zu leisten, habe ich entschieden alle aktuell stattfindenden Kurse zu pausieren und Veranstaltungen abzusagen, die ich absagen kann. Ich möchte nicht, dass sich Menschen in Gefahr begeben, um meine Kurse zu besuchen, die der Verbesserung des Wohlbefindens dienen sollen.
Aktuell arbeite ich an Alternativen, wie die Kurse nachgeholt werden können oder wie ich sie umsetzen kann, ohne dass sich Menschen begegnen müssen. In diesen Tagen müssen wir entschlossen handeln, um den Worst-Case zu verhindern. Diese Situation ist eine Herausforderung für uns alle.

Achtsamkeit in Zeiten des Coronavirus bedeutet, seine Pläne loszulassen und die Realität anzuerkennen, wie sie sich jetzt im Moment zeigt. Und dann eine Entscheidung zu treffen, die sich im Hier und Jetzt stimmig anfühlt. Manchmal ist Nicht-Handeln besser als Handeln. Manchmal ist es anders herum.

Berlin, 13.03.2020